Besuch bei VIRAC: Ein Bericht aus Lettland

Verfasst von Jürgen Starek

Während wir am Stockert ja eine Anlage wieder in Betrieb genommen haben, die mit Ausnahme der allerersten Jahre immer rein wissenschaftlich genutzt wurde, gibt es im Baltikum ein interessantes Projekt, bei dem nach der lettischen Unabhängigkeit eine ehemalige sowjetische Spionagefunkstelle als radioastronomisches Zentrum umgenutzt wurde. Die Stadt Irbene und die Teleskope dort hatte ich schon vor einigen Jahren im Internet entdeckt, und dieses Jahr hatte ich durch eine Urlaubsreise durchs Baltikum die Möglichkeit, die Anlage zu besuchen.

Der Nordwesten Lettlands ist eine weite und einsame Gegend. Bisher hatte bei meiner Tour das gut ausgebaute Fernbusnetz für alle Strecken gereicht, aber allein von Riga nach Ventspils schaukelt der Bus knappe vier Stunden über die Dörfer, und für das letzte Stück von Ventspils nach Irbene gab es dann doch keine Alternative zum PKW. Ich traf mich früh morgens mit meinem Gastgeber, Vladislavs Bezrukovs, an der Universität in Ventspils. Er hatte an diesem Tag eine Beobachtung am 32-Meter-Teleskop geplant und nahm mich die 40 km mit.

Hinter der Stadtgrenze von Ventspils beginnt dichter Kiefernwald, der sich die Küste entlang bis Kap Kolka zieht. Die Gegend ist praktisch unbewohnt, und ein Grund ist, dass hier in der geschlossenen Siedlung Irbene seit 1968 eine von der damaligen Sowjetunion betriebene SIGINT-Empfangsstelle betrieben wurde. Drei Antennen (32, 16 und 10 Meter Durchmesser) empfingen dort, an der Grenze zu Nordeuropa, westliche Satellitensignale, und eine angeschlossene Auswertegruppe analysierte die Daten. Insgesamt waren mehrere hundert Militärangehörige in Irbene stationiert. Die Gegend war damals Sperrgebiet, und auch Anwohner durften die Straße nicht ohne Papiere nutzen und nicht anhalten.

Aus der damals angeblich recht netten Militärsiedlung ist nach der Aufgabe der Anlage eine bröckelnde Geisterstadt geworden. Aber in Lettland hängt man nicht an dieser Epoche der Geschichte, und alle sind froh, dass die alten Plattenbauten jetzt abgerissen werden. Die Anlage in Irbene soll eine moderne wissenschaftliche Einrichtung werden und kein Museum für sowjetische Militärgeschichte.

Bei der Aufgabe des Stützpunkts Irbene sollten auch die drei dort aufgebauten Antennen abgerissen werden. Eine Initiative, dies zu verhindern und die Antennen der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen, hatte aber Erfolg, und die lettische Regierung konnte eine Übergabe aushandeln. Vor der Übergabe zerstörten die sowjetischen Soldaten allerdings noch viele wichtige Systeme, und das auch noch auf etwas heimtückische Art — etwa indem Batteriesäure in Generatoren und Motoren gegossen wurde oder an versteckten Stellen Nägel in Kabel geschlagen wurden.

RT-32 RT-32

Dennoch konnte der 32-Meter-Spiegel schon vor einigen Jahren wieder in Betrieb genommen werden, und aktuell laufen Arbeiten, um die Steuerung am 16-Meter-Spiegel wieder in Betrieb nehmen zu können. Im November 2012 hatte das RT-16 sein “first light” als wissenschaftlichs Gerät. Der 10-Meter-Spiegel ist derzeit abgebaut.

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Nachdem man das Wohngebiet, den ehemals äußeren Sicherheitsbereich, passiert hat, gelangt man in das eigentliche Zentrum der Anlage, wo die Teleskope stehen. Das Erste, was beim Blick auf das RT-32 auffällt, ist, wie unglaublich massiv man hier gebaut hat. Tatsächlich waren Schiffsbauer für die Trag- und Antriebsstruktur verantwortlich, und bei 32 Metern Durchmesser hat das RT-32 eine bewegte Masse von 600 t (zum Vergleich: das Teleskop auf dem Stockert, aus einer vergleichbaren Epoche, hat bei 25 m Spiegeldurchmesser “nur” 90 t bewegte Masse). Natürlich haben Jahre ohne Sanierung und die salzige Seeluft dem Gerät zugesetzt, aber VIRAC hat es geschafft, EU-Mittel für die weitere Sanierung zu erhalten.

Das Institut arbeitet besonders aktiv im internationalen VLBI-Netzwerk mit und möchte diese Aktivitäten mit der weiteren Sanierung noch ausbauen. Daneben laufen Beobachtungen an Masern, Quasaren, space debris-Messungen sowie Tests mit Satelliten. Die Empfänger und Backends entsprechen dem Stand der Technik bei kleineren Anlagen, und die Beobachtungen werden viel mehr durch den Personalmangel und den Sanierungsbedarf, gerade im Bereich Metallbau, als durch fehlende empfangstechnische Möglichkeiten begrenzt. Bei meinem Besuch stand eine gemeinsame Messung mit dem Team von Nizny Novgorod an, bei der GLONASS-Signale aufgezeichnet und auf verzerrende Umwelteinflüsse untersucht wurden.

Wenn man aber aus den Messräumen, die wie bei wohl jedem Radioteleskop eine Mischung aus Technikraum, HF-Werkstatt, Büro und Aufenthaltsraum sind, in die Steuer- und Antriebsräume geht, wird klar, dass das Team in Irbene vor ganz ähnlichen Problemen steht, wie wir sie am Stockert haben. Der alte Steuertisch (natürlich, wie alle wesentlichen Komponenten in dieser ehemals militärischen Anlage, vollkommen redundant ausgelegt) mit seinen Analoganzeigen und Handkurbeln steht noch, wird aber nur noch für Wartungsarbeiten benutzt. In der Regel wird per Computer gefahren. Die Motoren, ebenfalls doppelt redundant ausgelegt und vielfach überdimensioniert, werden wie bei uns von Leonardt-Sätzen (“Amplidynes”) angetrieben, wobei Irbene den Vorteil von verspannten Getrieben hat. Solche Getriebe haben kein Spiel, so dass das Teleskop im Wind nicht “wackelt”. Da die Getriebe nicht redundant ausgelegt werden konnten, sind sie sehr massiv gebaut, mit bis zu 8 cm dicken Stahlplatten als Träger der Zahnräder. Ganz oben, in den Kabinen unter dem Spiegel, gibt es ein interessantes Konstruktionsdetail: Die Kippwelle des Teleskops ist mit einem so großen Durchmesser ausgeführt, dass sie begehbar ist und man durch sie hindurch in den Cassegrain-Fokus klettern kann. Das macht den Wechsel von Empfängern einfacher, und gibt einem als Besucher das Gefühl, in einer Raumstation zu stehen — hinter der runden Einstiegsluke dreht sich die Leiter in den Cassegrain-Fokusraum mit dem Spiegel mit.

Handfahrpult Azimutmotoren Drehachse

Nach einigen Stunden und einem Abstecher durch den verlassenen Wald in der ehemaligen Sperrzone zum RT-16, das sich noch mitten in der Sanierung befindet, brachen wir mittags wieder zurück nach Ventspils auf. Auf der Fahrt sprachen wir über die Situation der Wissenschaften in Lettland, und besonders einer kleinen, abgelegenen Universität wie Ventspils. Trotz der vielen Probleme ist Vladislavs zuversichtlich. Ich hoffe, dass er Recht behält und das Team die schwierige Stahlbausanierung gut über die Bühne bekommt — wir wissen ja vom Stockert, wie anstrengend und nervenzehrend das sein kann.

Besonders bedanken möchte ich mich bei Livija Aulmane, Vladislavs Bezrukovs und dem Rest des VIRAC-Teams, die diesen Besuch möglich gemacht haben. Wir werden versuchen, bei geeigneten Projekten zusammenzuarbeiten und uns gegenseitig zu unterstützen.

2013